In Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention sind die Verpflichtungen der Vertragsstaaten klar dahin definiert, dass mit der Konvention
die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung
gewährleistet und gefördert wird. Um das zu erreichen, haben die Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zu treffen. Diese Verpflichtung wird allerdings bezüglich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte eingeschränkt. Nach Artikel 4 Abs. 2 der Konvention müssen diese Rechte nicht sofort, sondern sie dürfen „nach und nach“ (progressiv) umgesetzt werden – soweit sie keine Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind – verletzen. Die Realisierung der Konvention in einem Vertragsstaat kann also Stückchen für Stücken erfolgen, „unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel“.
An dieser Einschränkung ist erkennbar, dass die Realitätsbezogenheit bei der Entwicklung der Behindertenrechtskonvention durchaus ein wichtiger Punkt war und kein Luftschloss gebaut werden sollte, vielmehr sollte die Konvention tatsächlich in die Praxis umsetzbar sein. Dass dabei jede Gesetzesänderung zur Inklusion und jede Umsetzung einer Barrierefreiheit einer gewissen Zeit bedarf, ist wohl verständlich. Genauso müssen sowohl für erforderliche Baumaßnahmen, Schulungen als auch für erforderliches Personal die finanziellen Mittel vorhanden sein.
Die progressive Realisierung bezieht sich auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; damit gemeint sind also die Menschenrechte des UN-Sozialpakts. In diesem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind u.a. auch folgende Rechte enthalten:
- das Recht auf Arbeit (Artikel 6)
- das Recht auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit (Artikel 7 a i)
- das Recht auf Bildung (Artikel 13)
- das Recht auf angemessenen Lebensstandard, einschließlich des Rechts auf Wohnen (Artikel 11)
- das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben (Artikel 15)
Besonders über die Umsetzung des Rechts auf Bildung wird in der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Behindertenrechtskonvention kontrovers diskutiert. Einerseits hat das Recht auf Bildung auch einen völkerrechtlichen Aspekt, denn findet der gleichberechtigte Besuch einer Schule von behinderten und nichtbehinderten Kindern nicht statt, ist sowohl der Gleichheitsgrundsatz (Gleichbehandlungsgrundsatz) als auch das Diskriminierungsverbot verletzt. Folglich müsste die Verpflichtung, den gleichberechtigten Schulbesuch einer Regelschule zu ermöglichen, sofort und nicht nach und nach umgesetzt werden.
Andererseits argumentiert die Bundesrepublik damit, dass aufgrund der Behindertenrechtskonvention und ihrer Ratifizierung keine subjektiven Ansprüche bestehen. Vielmehr können solche Ansprüche erst aus der Umsetzung der Konvention in staatliche Gesetze und Regelungen erwachsen. Da in der föderalen Struktur der Bundesrepublik die Bildung Ländersache ist, bedarf dieser Umsetzung etwas Zeit. Jedes Bundesland hat die Behindertenrechtskonvention in Landesrecht umzusetzen und gemeinsam mit dem Bund und der Ländergemeinschaft an der Verwirklichung der Konvention zu arbeiten.
Inzwischen ist von der Bundesregierung ein Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention erarbeitet worden :“Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“. Mit diesem am 15. Juni 2011 vom Bundeskabinett verabschiedeten Aktionsplan, an dem auch Betroffene und deren Verbände mitgewirkt haben, wird die Gesamtstrategie für die nächsten zehn Jahre festgelegt, mit der die Ziele und Maßnahmen zur Realisierung der Konvention verwirklicht werden sollen. Also doch eine Umsetzung in mehreren Schritten – eine progressive Realisierung.